🇹🇷 Im Land der leeren Sonnenliegen
Türkische Wirtschaft: Stabilisierung mit vielen Fragezeichen.
Es ist für mich kaum nachvollziehbar, aber selbst mein Lieblings-Boutiquehotel, das Olive Garden in Kabak, hat in diesem Sommer noch freie Zimmer. Die Aussicht auf Meer, Berge und Stille ist spektakulär, die Preise moderat. Seit über zwölf Jahren schalte ich dort regelmäßig vom Alltag ab.
Doch das große Ganze zeigt ein anderes Bild: Die Türkei ist kein Schnäppchen mehr. Flüge, Mietwagen, Beachclubs, Paragliding am Babadağ und Restaurantbesuche – alles ist für ausländische Gäste teurer geworden, nicht nur die Hotelübernachtung. Ein fünftägiger Familienurlaub in Antalya kostet mittlerweile bis zu 150.000 TL, rund 4.000–5.000 €. Damit konkurriert man preislich mit Dubai.
Die Folge: In den ersten fünf Monaten 2025 stagnierten die Touristenzahlen zwar:
nur minus 0,15 % im Gesamtbild
aber –18,1 % aus Deutschland
–5,2 % aus Russland
und –60 % aus Indien laut Branchenanalysen.
Gerade der Einbruch im indischen Markt zeigt, wie sehr Außenpolitik (Stichwort: Pakistan) und Wirtschaftspolitik zusammenhängen.
Der Tourismus verliert gleich an mehreren Fronten seine Kalkulationsbasis – und liefert ein Lehrstück über die Schnittstelle von Preis, Politik und Image. Denn die gesamte türkische Wirtschaft steht vor einem heiklen Übergang: Zwar gehen die Inflationszahlen leicht zurück, doch der Konsum bleibt teuer, die Industrie lahmt, und die Zentralbank muss zwischen Stabilitätssignalen und Kapitalanfälligkeit balancieren.
🔻 Inflation sinkt – aber nicht überall
Mit 1,37 % Monatsinflation liegt der Juni-Wert unter den Erwartungen. Die Jahresrate sinkt minimal auf 35,1 %. Positiv wirken insbesondere sinkende Nahrungsmittelpreise – eine seltene Entwicklung, die vor allem auf Rückgänge bei Gemüse und Eiern zurückzuführen ist. Die Zentralbank (CBRT) deutet deshalb an, ihre Inflationsprognose auf 28,5 % für Ende 2025 zu senken.
Doch das Bild ist uneinheitlich:
Dienstleistungen verteuern sich deutlich (+2,73 % m/m), besonders Mieten, Gastronomie und Bildung.
Die Wohnungsmieten steigen im Monat um 4,0 %, was bei einer offiziellen Jahresrate von 83 % deutlich über dem Leitzins (50 %) liegt – und das Vertrauen in offizielle Inflationsdaten erneut infrage stellt.
Energiepreise stiegen im Juni um 2,27 % – v.a. Strompreise (+9,9 %) und Raffinerieprodukte (+8,1 %).
Die Erzeugerpreise (PPI) steigen weiter (+2,46 %) und deuten auf fortgesetzten Kostendruck in der Industrie.
Unser Blick: Die moderate Disinflation ist ein Teilerfolg der CBRT, die seit März einen strafferen geldpolitischen Kurs fährt. Doch sie bleibt anfällig: Die Indexierung von Löhnen, Mieten und Bildungsgebühren an vergangene Inflationswerte verzögert den disinflationären Effekt. Die steigenden Energiekosten sind eine geopolitische Hypothek, die sich bei neuen Spannungen im Nahen Osten oder bei russischen Energielieferungen verschärfen könnte.
🏖 Tourismussektor unter Druck – Rückgrat bricht weg
Trotz Hochsaison zeigen sich in den Tourismusregionen der Türkei auffällige Leerstände.
Dienstleistungsinflation: Die spürbaren Preissteigerungen im Tourismus treiben die Dienstleistungsinflation weiter nach oben, entgegen aller Disinflationssignale.
Haushaltsdefizit: Geringere Touristenzahlen und Einnahmen drücken auf die Steuereinnahmen und Tourismuseinnahmen – ein zusätzlicher Belastungsfaktor für die fiskalische Stabilisierung.
Wachstumsaussichten: Der Sektor kämpft bereits mit starkem Rückgang – das stützt die Signale von rezessiven Wachstumstendenzen im verarbeitenden Gewerbe und im Handel.
Unser Blick: Diese Schere schwächt die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Griechenland, Ägypten oder Spanien. Die Auswirkungen zeigen sich konkret: Viele Hotels in Antalya und Marmaris melden Auslastungen von unter 50 %, obwohl in den Vorjahren um diese Zeit kaum ein Zimmer zu bekommen war.
🌐 Indien-Stornierungen als geopolitisches Risiko
Besonders bemerkenswert ist der tourismuspolitische Rückschlag im indischen Markt. Nachdem die türkische Regierung im Mai öffentlich Stellung für Pakistan im Kaschmir-Konflikt bezog, verzeichneten indische Reiseanbieter laut Reuters Stornierungsquoten von bis zu 60 % bei Reisen in die Türkei. Indien galt in den vergangenen Jahren als wachstumsstarker Zielmarkt mit wachsender Mittelschicht – ein Rückgang dieser Größenordnung entspricht einem potenziellen Verlust von mehreren Hunderttausend Gästen.
Unser Blick: Damit schlägt ein außenpolitisches Signal direkt auf den Dienstleistungssektor durch. Die geopolitische Positionierung Ankaras zwischen islamischer Solidarität, blockfreier Diplomatie und wirtschaftlichem Pragmatismus wird zunehmend zum Spagat – mit realwirtschaftlichen Kosten.
📉 Industrie schwächelt – PMI auf Rezessionsniveau
Der Einkaufsmanagerindex (PMI) liegt mit 46,7 Punkten auf dem niedrigsten Niveau seit acht Monaten. Besonders die Textilbranche – eine der exportorientierten Säulen der türkischen Industrie – fällt mit einem Wert von 38,1 weit unter die Expansionsschwelle.
Auftragseingänge, Produktion und Beschäftigung sind rückläufig.
Die Lagerbestände steigen, was auf eine Abschwächung der Nachfrage hinweist.
Unser Blick: Das Bild einer industriellen Mini-Rezession kontrastiert mit dem robusten Konsum. Hier zeigen sich zwei Wirtschaften: ein kreditgetriebener Binnenmarkt, gestützt von fiskalischen Transfers und hohen Löhnen – und eine außenorientierte Industrie, die unter Kosten, Währungsschwäche und geopolitischer Unsicherheit leidet.
⚖️ Außenhandel und Leistungsbilanz: Der Konsum importiert das Defizit
Die Handelsbilanz verzeichnet im Juni ein Defizit von 8,2 Mrd. USD – ein Anstieg um knapp 39 % gegenüber dem Vorjahr. Exporte wachsen zwar (v. a. Autos, Stahl, Elektronik), doch Importe steigen doppelt so schnell, u. a.:
Konsumgüter +32,5 %
Hybrid- und E-Autos +37,0 %
Goldimporte +45,6 % (Absicherung gegen Inflation)
Unser Blick: Der Konsumboom im Inland wird zunehmend durch Importe gedeckt. Die Lira bleibt schwach, dennoch greifen Verbraucher weiter zu ausländischen Produkten – auch weil viele E-Fahrzeuge oder moderne Technik in der Türkei nicht produziert werden. Ein Strukturproblem, das in Verbindung mit der hohen Importabhängigkeit die Leistungsbilanz belastet.
💰 Kapitalzuflüsse und Reserven: Eine Atempause für die CBRT
Die Devisenreserven der Zentralbank sanken leicht auf 154,4 Mrd. USD. Gleichzeitig investierten ausländische Investoren rund 1,25 Mrd. USD netto in türkische Anleihen und Aktien. Die Kapitalzuflüsse seit Jahresbeginn summieren sich auf 4,0 Mrd. USD.
Unser Blick: Internationale Investoren preisen offenbar eine politische Stabilisierung ein – auch in Erwartung mittelfristiger Zinssenkungen bei weiter sinkender Inflation. Doch das Kapital ist volatil: Die Zuflüsse stützen kurzfristig die Lira, aber nachhaltiges Vertrauen erfordert strukturelle Fortschritte.
🧭 Fazit: Disziplin ohne Dynamik
Die Türkei befindet sich im Sommer 2025 in einem makroökonomischen Übergangsmodus:
Disinflation gelingt punktuell, aber der Preisdruck im Inland bleibt hoch – vor allem bei Dienstleistungen und Mieten.
Der Industriesektor droht abzukoppeln, was mittelfristig die Wachstumsperspektive trübt.
Das Außenhandelsdefizit reflektiert strukturelle Schwächen: konsumgetrieben, importabhängig, rohstoffsensibel.
Die Geldpolitik der CBRT wirkt, aber kann fiskalische Impulse, Lohnindexierung und politische Unsicherheiten nur begrenzt ausgleichen.
Unser abschließender Blick:
Ein echtes makroökonomisches Gleichgewicht rückt nur näher, wenn die strukturellen Verzerrungen adressiert werden – darunter die Dominanz des Staats im Kreditwesen, die Schattenhaushalte, die geringe Exportvielfalt und die politische Einflussnahme auf Wirtschaftsakteure. Ohne diesen Wandel bleibt die Stabilisierung oberflächlich – und anfällig für externe Schocks oder innenpolitische Wendepunkte.