🇹🇷 Vertrauen ist ein Exportgut
Warum Ankara auf der Weltbühne Stärke zeigt, aber Investoren das Weite suchen
Israels Börse schoss mitten im Krieg auf ein Allzeithoch. Die türkischen Finanzmärkte bleiben trotz außenpolitischer Präsenz im Abwärtstrend. Was die Börse über Glaubwürdigkeit und Risiko verrät.
Tel Aviv boomt, Istanbul zuckt
Es war ein Moment geopolitischer Anspannung: Mitte Juni bombardierte Israel iranische Nuklearanlagen. Was an den Börsen folgte, war paradox – aber lehrreich.
Der israelische Leitindex TA-125 schoss um +8 % in die Höhe, der enger gefasste TA-35 um 6,8 %
Schekel: Höchster Stand seit 2023 (3,41 USD)
In der Türkei dagegen:
BIST 100: –3,5 % am Tag der Luftschläge
Handelsunterbrechungen und Leerkaufverbote in Istanbul
Seit Jahresbeginn: rund –6 %
Zum Vergleich: Israels TA-125 liegt bei +21 %
Ankara reagiert außenpolitisch agil: verhandelt mit Hamas, liefert Waffen an die Ukraine, öffnet Konsulate in Aleppo. Doch der Finanzmarkt bleibt unbeeindruckt. Die Türkei hat Einfluss – aber keine Anziehungskraft.
Die Gleichung ist einfach: Der Markt belohnt jene, die als Gewinner aus einem Konflikt hervorgehen – oder es zumindest überzeugend inszenieren. Israel bietet Sicherheit. Und die Türkei: Unsicherheit mit Ansage. Warum ist das so?
Şimşeks Reformkurs: Stabilität auf Abruf
Finanzminister Mehmet Şimşek gilt als Architekt des wirtschaftspolitischen Kurswechsels. Seit Sommer 2023 setzt er auf:
📈 Zinserhöhungen: Leitzins zuletzt bei 46 %, effektiver Tagesgeldsatz bei 49 %
🧮 Inflationsbekämpfung: Rückgang von >60 % (2023) auf ~35 % im Juni 2025
📉 Inflationserwartungen:
Markt: 24,6 % (zuvor 25,1 %)
Realwirtschaft: 39,8 % (zuvor 41,0 %)
Haushalte: 53,0 % (zuvor 59,9 %)
Anteil der Haushalte mit sinkenden Inflationserwartungen: 30,7 % (↑ von 27,8 %)
🧊 Ziel: Şimşek nennt 2025 das „Jahr der Disinflation“
Die geldpolitische Glaubwürdigkeit scheint gestärkt. Die CDS-Prämie der Türkei fiel unter 300 Basispunkte. Ratingagenturen haben die Türkei wieder mehrfach hochgestuft. Die Zentralbank kommuniziert klar: Zinssenkungen nur, wenn der Preisauftrieb dauerhaft gebrochen ist.
Aber das reicht nicht.
Kapitalflucht statt Kapitalmarktvertrauen
Zahlen der Woche vom 20. Juni offenbaren, wie brüchig das Vertrauen bleibt:
📉 Bruttowährungsreserven: –3,6 Mrd. $ auf 155,7 Mrd. $
📉 FX-Komponente: –2,0 Mrd. $
📉 Goldreserven: –1,5 Mrd. $
📉 Nettoreserven (exkl. Treasury): –5,3 Mrd. $ auf 42,1 Mrd. $
📉 Netto-FX-Position (inkl. Swaps): –3,9 Mrd. $ auf 24,2 Mrd. $
📊 Dass die Konsumimporte im Mai deutlich anstiegen (+12.8% y/y auf 5,6 Mrd. $), ist kein Zeichen für wirtschaftliche Stärke - sondern Verzweiflung der Konsumenten, die diese Produkte nicht auf dem Heimatmarkt finden.
Gleichzeitig zogen ausländische Investoren Geld ab:
🟥 109 Mio. $ aus Aktien
🟥 300 Mio. $ aus Staatsanleihen
🟥 500 Mio. $ via Swap-Kanäle - alles innerhalb einer Woche
Der Ausländeranteil an der Borsa Istanbul liegt bei nur noch 17 % – historisches Tief. Im MSCI Emerging Markets Index spielt die Türkei keine Rolle mehr. Wer Rendite will, parkt Kapital lieber in Lokalwährungsbonds mit 40 %-Zinsen.
Wer Vertrauen will, scheint sich in Tel Aviv besser aufgehoben zu fühlen, selbst wenn dort iranische Raketen einschlagen.
Und trotz gelegentlicher Zuflüsse – etwa 490 Mio. $ in Aktien seit Jahresbeginn – zeigen die Nettozahlen: Das Grundvertrauen fehlt.
📊 EM steigen – aber ohne die Türkei
Noch bemerkenswerter wird die Schwäche der türkischen Börse im globalen Vergleich: Schwellenländer verzeichnen 2025 eine der besten Performancephasen der letzten Jahre – nur ohne die Türkei.
MSCI Emerging Markets (YTD, Stand 25. Juni): +13,5 %
Getrieben von einem schwachen Dollar, steigenden lokalen Renditen, Kapitalzuflüssen und chinesischem Tech-Schub.MSCI World (entwickelte Märkte): +4,8 %
Trotz dieses Rückenwinds für Emerging Markets bleibt der BIST 100 mit –5 % bis –6 % eine der schwächsten großen Börsen weltweit. Die Türkei kann von der globalen Risikobereitschaft nicht profitieren – weil Vertrauen, institutionelle Tiefe und regulatorische Stabilität fehlen.
Geopolitik: Bühne ohne Rendite
Dabei ist die Türkei außenpolitisch präsent wie selten. Sie vermittelt mit der Hamas, liefert Waffen an die Ukraine, unterhält Kontakte nach Moskau, Teheran und Brüssel. Sie erweitert Konsulate in Syrien, strebt eine neue Rolle in der NATO an, rückt von der PKK-Frage vorsichtig ab.
Doch geopolitische Hebel führen nicht automatisch zu ökonomischer Aufwertung.
Denn Macht ist nur dann marktwirksam, wenn sie als stabilitätsstiftend wahrgenommen wird. Und hier beginnt das Problem: Der Iran-Israel-Konflikt verteuert Energieimporte, stört Handelsrouten und rückt die Türkei näher an ein potenzielles Eskalationsrisiko.
Investoren sehen:
Hohe Inflation
Politische Interventionsbereitschaft
Schwache Währung
Wenig Berechenbarkeit
Deshalb bleiben Anleger außen vor. Und selbst viele türkische Kleinanleger schichten derzeit in Geldmarktfonds oder Anleihen um. Zwischenzeitlich verzeichnete die Borsa Istanbul einen Rückgang um 1,8 Mio. Aktionäre binnen zwölf Monaten.
Warum die Märkte Israel mehr trauen als der Türkei
Die Divergenz zwischen Tel Aviv und Istanbul ist keine reine Marktanomalie – sie ist eine psychologische Diagnose:
🇮🇱 Israel gilt als regionaler Hegemon mit glaubwürdiger Sicherheitspolitik
🇹🇷 Die Türkei gilt als instabiler Schwellenmarkt mit unklarer Linie
Während israelische Banken und Immobilienwerte im Juni zulegten – aus Erwartung auf Wiederaufbau und Kapitalrückkehr – strafen Märkte türkische Banken und Industrieaktien ab.
Finanzminister Şimşek bleibt standhaft: „Wir haben kein Luxusproblem, sondern ein Inflationsproblem. Und wir lösen es.“ Doch der Vertrauensvorschuss bleibt aus.
Was wir daraus lernen:
Märkte reagieren nicht auf Rhetorik, sondern auf Strukturen. Wer Vertrauen will, muss es sich verdienen – nicht verdienen lassen. Die Türkei hat geopolitisch viel Gewicht. Doch solange sie wirtschaftlich kein Fundament legt, bleibt sie an den Finanzmärkten ein Leichtgewicht.
Bis nächste Woche – mit einem anderen Blick auf die Türkei.